Hinter die Kulissen geblickt
Tafeln und Wärmestube mit Übernachtungsstelle in Kempten - Ein Interview

Am 02. Mai ist der „Tag der Lebensmittelverschwendung“. An diesem Aktionstag wird darauf hingewiesen, dass allein in Deutschland pro Jahr zwischen elf und 18 Millionen Tonnen genießbarer Nahrungsmittel im Müll landen. Damit gehen nicht nur die Lebensmittel selbst verloren, sondern auch die zur Herstellung verwendeten Ressourcen. Das BRK im Oberallgäu setzt sich mit seinen Tafelläden und der Wärmestube gezielt für die Vermeidung von Lebensmittelverschwendung und hilft im selben Zuge Bedürftigen. Tafel-Koordinator Markus Wille und die Leiterin der Wärmestube und Übernachtungsstelle, Amelie Lang, erläutern im Dialog viel Wissenswertes rund um ihre Einrichtungen.
In der Öffentlichkeit wird oft davon ausgegangen, dass Tafel und Wärmestube dasselbe sei – was ja nicht stimmt. Was genau bieten beide Dienste an und wo sind sie in Kempten zu finden?
Markus Wille: Die Tafel Kempten verteilt seit 16 Jahren in drei Ausgabestellen Lebensmittel wie Obst und Gemüse, Backwaren, Milchprodukte, Konserven, Tiefkühlprodukte und Getränke sowie Hygieneprodukte an Menschen mit geringem Einkommen. Die Tafelläden befinden sich in der Memminger Straße sowie in der Magnusstraße 16, mit dem Tafelladen der Caritas in der Landwehrstraße 11 besteht eine Kooperation. Über 100 Spender sorgen dafür, dass die Läden mit gesunden und hochwertigen Produkten bestückt sind. Pro Tag versorgen wir mit einem Team von über 100 Ehrenamtlichen rund 450 Menschen. Wir sind wie eine Art Tante Emma-Laden mit minimalen Preisen: Unsere Kunden dürfen sich in den Läden weitgehend selbst bedienen und sich heraussuchen, was sie mitnehmen möchten und bezahlen rund zehn bis 20 Prozent des regulären Ladenpreises. Die Tafel Kempten fungiert zudem als Verteilstelle für kleine Tafeln im Umkreis, da wir die Fahrzeuge und Lagerräume haben, um Palettenware von Speditionen und der Lebensmittelindustrie anzunehmen und zu verteilen. Im Gegenzug bringen uns auch andere Tafeln Ware, die sie zu viel haben. So profitieren letztlich alle von einem guten und reichhaltigen Warenangebot.
Amelie Lang: Die Wärmestube liegt in der Haubenschloßstraße 12, integriert in das Rettungszentrum. Sie ist ein gemütlicher Ort, ähnlich einem kleinen Gasthaus. Hier gibt es an 365 Tagen ein abwechslungsreiches Frühstück für einen Euro inklusive Kaffee sowie ein frisch gekochtes Mittagessen um 12.00 Uhr für 1,50 Euro. Die allermeisten unserer Gäste kennen wir seit Jahren persönlich. Wir machen keine Bedürftigkeitskontrolle, weil wir eine Begegnungsstätte für ganz unterschiedliche Menschen sind. Wollten wir `Bedürftigkeit‘ definieren, müssten wir diesen Begriff nicht nur auf eine finanzielle Situation, sondern auch eine gesundheitliche - vor allem psychische - und soziale Komponente ausweiten. Schließlich ist Bedürftigkeit weit mehr, als `nur´ eine geringe Rente zu bekommen oder gar kein Einkommen zu haben. Sie umfasst auch, einsam zu sein, sich überfordert zu fühlen, nicht (mehr) den Normen zu entsprechen, selbst krank zu sein oder an der Seite eines kranken Ehepartners. Das geht oft damit einher, dass man kaum in der Lage ist, über den Tag zu kommen oder sich das Essen selbst zu kochen, dass man kaum Sozialkontakte hat und einfach nicht mehr funktioniert, wie erforderlich. Kurz gesagt: Bedürftigkeit heißt in vielen Fällen, gestrandet zu sein in unserer Leistungsgesellschaft. Genau darum legen wir nicht wieder Normen an und sagen: Nur wenn du diesen oder jenen Parameter erfüllst, darfst du kommen. In der Wärmestube ist jeder willkommen - willkommen, respektvoll und unvoreingenommen miteinander umzugehen. Sehr oft ist das eine erhebliche Herausforderung und manchmal eine neue Kompetenz, die hier erlebbar wird und behutsam erlernt werden muss, damit wir ein gutes Miteinander überhaupt haben können.
Und dann gibt es noch unsere Übernachtungsstelle mit elf Betten im Untergeschoss unserer Wärmestube. Dort können Nichtsesshafte und finanziell Bedürftige beispielsweise nach einem Aufenthalt im Bezirkskrankenhaus oder der Justizvollzugsanstalt unterkommen bis sie eine andere Wohnmöglichkeit gefunden haben.
Überschneidet sich für gewöhnlich Ihre Arbeit an irgendeiner Stelle?
Amelie Lang: Ohne Markus und die Leistungen seiner Tafel sähe es mit den Lebensmitteln in unserer Küche sehr schlecht aus. Gewöhnlich kaufen wir ein- bis zweimal Mal pro Woche zu, aber momentan mussten wir seit drei Wochen nicht mehr einkaufen gehen, weil wir von der Tafel so gut versorgt sind. Ohne die Tafel könnten wir den Standard wie beispielsweise den Abwechslungsreichtum unseres Speiseplans und die sehr begrenzten Kosten dafür niemals aufrechterhalten. Wir sind abhängig von der guten Arbeit unserer Tafel.
Markus Wille: Für die Tafel Kempten ist die gute Zusammenarbeit mit der Wärmestube ein Glücksfall. Da mehrere Gastronomie- und Großverbrauchermärkte zu unseren Lieferanten gehören, bekommen wir sehr oft Lebensmittel in Großverpackungen und nicht jeder Privathaushalt kann z.B. etwas mit 10 kg Joghurt oder 5 kg Tomatenmark anfangen. Das Um- und Abpacken in kleinere Gebinde ist oft nicht möglich, da Behältnisse fehlen oder die Produkte aus Gründen der Lebensmittelhygiene nicht geteilt werden können. Der kurze Weg über den Hof in die Küche der Wärmestube ist hier die perfekte Lösung und wir haben wieder etliche Kilogramm täglich vor der Entsorgung gerettet.
Mit welchen organisatorischen Veränderungen stehen Sie die Zeit der Corona-Krise durch?
Markus Wille: Unser Dienst läuft weiter, auch wenn die Tafelläden selbst derzeit geschlossen sind. In und vor unseren Tafel-Ausgabestellen ist einfach nicht genügend Platz, um die Abstandsregelungen einzuhalten. Zudem gehört unser Kreis aus ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meist selbst zu einer der Risikogruppen. Wir sind all unseren Ehrenamtlichen gegenüber verpflichtet, sie vor Infektionen und Krankheiten zu schützen. Daher haben wir kurzerhand eine Hotline mit Bestellservice und kostenloser Lieferung nach Hause eingerichtet. Die Bedürftigen rufen an und bestellen ihr Lebensmittelpaket, bestehend aus haltbaren und frischen Lebensmitteln nach Hause oder holen es im Laufe des Vormittags kontaktlos an unserer Tafel-Rampe ab. Im Einsatz sind derzeit nur jüngere Ehrenamtliche, die körperlich fit sind und keine Vorerkrankungen haben. Alle Pakete sind für die Bedürftigen kostenlos.
Amelie Lang: Wir geben das Essen vor unserer Türe aus, haben die Schlafplätze auf die Zimmeranzahl verringert, die Mitarbeitenden in der Küche auf ein Mindestmaß reduziert sowie alle machbaren Schutzvorkehrungen umgesetzt, beispielsweise haben wir eine Plexiglasscheibe im Einsatz.
Wie und wann sind Sie zu Ihrer beruflichen Tätigkeit gekommen und was mögen Sie ganz besonders daran?
Amelie Lang: Ich bin seit einem guten Jahr dabei. Es hat mich gereizt, echte Sozialarbeit zu leisten und Ethik umzusetzen. Aber vollkommen überzeugt haben mich die Menschen, mit denen ich hier jeden Tag zusammenarbeite und zusammen bin: Eine wirklich kunterbunte Gesellschaft an beeindruckenden Persönlichkeiten. Und dann ist es schön abwechslungsreich, die Aufgaben so vielfältig.
Markus Wille: Seit neun Jahren kümmere ich mich um die Tafel Kempten. Mir macht der Umgang mit meinen ehrenamtlichen Mitarbeitern und den Lebensmitteln Freude. Auch das Einrichten unserer wie Tante Emma-Läden gestalteten Ausgabestellen hat richtig Spaß gemacht. Bei uns wird es nie langweilig - jeden Tag werden wir vor eine neue Herausforderung gestellt, um Warenspenden von A nach B zu bekommen und zu verteilen.
Und weil Arbeit nicht das ganze Leben ist: Was machen Sie in Ihrer Freizeit?
Markus Wille: Freunde, Familie, das Reisen und die Leidenschaft für Antiquitäten, Kunst und die schönen Dinge im Leben füllen meine Freizeit völlig aus.
Amelie Lang: Auftanken kann und darf ich bei meiner Familie, diese unterstützt mich bei meinem beruflichen Tun: Meine erwachsenen Kinder kochten während der Coronakrise in der Wärmestube, mein Mann begleitet mich auf Touren für das Rote Kreuz – dafür bin ich sehr dankbar. Ansonsten bin ich in meiner Freizeit Künstlerin, stelle Lucienhäusl aus Porzellan her, schreibe gerne, bin aber auch liebend gerne draußen unterwegs